Wolfgang Mattheuer & Dan Namingha
Wechselspiel No. 6
7.9.2024 – 5.1.2025
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Wolfgang Mattheuer, Der Mond ist aufgegangen..., 1978. Sammlung Hasso Plattner © Wolfgang Mattheuer / VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Dan Namingha, New Mexico Night #4, 2008. Privatsammlung
»Der Mond ist aufgegangen
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar:
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.
Wie ist die Welt so stille
Und in der Dämm’rung Hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt«
»Der Mond ist aufgegangen«, 1779
(Text: Matthias Claudius, Melodie: Johann Abraham Peter Schulz)
Im Kabinett des MINSK wird Noah Davis’ Painting for My Dad (2011) zusammen mit einem WECHSELSPIEL zweier Nachtszenen der Maler Wolfgang Mattheuer (1927, Vogtland – 2004, Leipzig) und Dan Namingha (1950, Arizona) gezeigt.
In der Ausstellungsreihe WECHSELSPIEL stelle ich Kunstwerke – nicht selten aus sehr unterschiedlichen Kontexten – einander gegenüber, um Interaktionen außerhalb des »Kanons« herzustellen. So, als wären die Kunstwerke Musiker:innen, die sich bei einer Improvisations-Session vorübergehend in einem kleinen Jazzklub aufeinander einlassen, um Musik aus dem Moment heraus zu machen, obwohl sie sich vorher vielleicht nicht einmal kannten. Sie spielen zusammen, nicht unbedingt auf der Suche nach Harmonie, sondern auch auf der Suche nach einer Herausforderung. Inspiriert von Tina M. Campts Konzept »den Bildern zuhören« (»listening to images«)[1] geht es mir beim WECHSELSPIEL darum, Kunstwerke miteinander zu konfrontieren, um zu erfahren, was sich zwischen ihnen abspielt, wenn man nur aufmerksam zuhört. WECHSELSPIELE zwischen Werken zu schaffen, bietet die Freiheit, jenseits von kunsthistorischen »Fakten« intuitiv, vielleicht sogar spekulativ, vorzugehen und Dialoge zu ermöglichen, die dann unerwartet neue
Perspektiven eröffnen.
Das WECHSELSPIEL zwischen Mattheuer und Namingha zeigt zweimal die Nacht, einmal in der nahen Umgebung von Leipzig, einmal in New Mexico. Die Nacht, die allen und keinem gehört. Sie kommt und geht zeitlich versetzt überall, wenn es dunkel wird, und erinnert uns daran, dass wieder ein Tag vorbei ist und ein neuer Tag bald beginnen wird. Der Übergang zwischen Tag und Nacht verzaubert mit seinen Farben, die Nacht lässt die Sterne leuchten und den Mond scheinen. So wie die Nacht zum Schlafen einlädt, kann sie auch von Schlaflosigkeit, Nachtschichten oder Nachtleben geprägt sein. Die Nacht war schon immer Sujet der Kunst – etwa in Form von kontemplativen Landschaften mit fernen Horizonten wie in der Romantik oder von exzessiven Feierszenen wie im Expressionismus.
Der Künstler Wolfgang Mattheuer wurde im Vogtland geboren, arbeitete in der DDR und blieb bis zu seinem Tod in Leipzig. Mattheuers Werk stand in der Tradition der Leipziger Schule in der ehemaligen DDR. Mit über 25 Werken bilden seine Gemälde und Skulpturen das größte Konvolut in der Sammlung Hasso Plattner direkt nach Claude Monet.
Der Soundtrack von Mattheuers Gemälde geht vom Titel aus. Es ist das berühmte Schlaflied »Der Mond ist aufgegangen«, eine langsame Melodie, die Zuversicht und Geborgenheit ausstrahlt.[2] Wer das Lied kennt, kann die Melodie im Kopf hören. Doch das Werk zeigt voller Ironie, wie die Scheinwerfer eines Autos am Horizont heller leuchten als der aufgehende und herbeigesungene trübe Mond. Der Protagonist des Liedes, der Mond, wird vom Fernlicht eines Fahrzeugs überstrahlt. Im Hintergrund sind die Lichter einer Stadt zu sehen. So bricht Mattheuer die Romantik der Szenerie und lässt uns darüber nachdenken, wie die Technologie und das künstliche Licht dem Rhythmus der Natur oft entgegenstehen und die Nachtruhe durchbrechen. Mattheuer äußert dazu: »Das Technische umgibt uns ständig, es gehört zu unserem Leben. [...] In dem oft unvermittelten, manchmal auch heftigen Zusammenstoß von Natur und Technik und dem menschlichen Verhalten dazu finde ich viele Bildideen. Diese Spannung erscheint mir wesentlich für unsere Zeit, in ihr zeigt sich die Kompliziertheit unserer Gegenwart.«[3]
Eine sehr ähnliche Szene einer hügeligen Landschaft mit dem Mond zeigt Dan Naminghas Gemälde New Mexico Night #4 (2008). Doch die Natur erscheint unberührt und von fast surrealer Perfektion. Namingha wurde 1950 in Keams Canyon, Arizona, geboren und ist Mitglied der Hopi-Tewa- Community. Er arbeitet seit 40 Jahren als Maler und Bildhauer und ist einer der prominenten Vertreter der Native American Kunst in den Vereinigten Staaten. Seine Werke stellen oft die unmittelbare Umgebung dar und zeugen von einem unerschütterlichen Respekt für die Erde mit ihren Ressourcen und für den Geist seiner Vorfahren. »Die Idee ist ganz einfach. Entweder wir gehen unter oder wir schwimmen. Wir haben die Wahl. Und das haben auch einige der Ältesten gesagt; dass wir die Wahl haben. Wir können in eine Richtung gehen, die die Umwelt zerstört. Auch auf der Grundlage von Menschenrechten, auf der ganzen Welt, [wenn wir betrachten,] wie jede Kultur, jedes Land manchmal auf einem anderen Land herumhackt und die Menschen von diesem bestimmten Ort misshandelt. Wir haben die Wahl«,[4] erklärt Namingha in einem Vortrag über die Prophezeiungen der Hopi und verdeutlicht einmal mehr die tiefe Verbindung zwischen Menschheit und Natur.
Beide Künstler wählten dasselbe Sujet, wenn auch geografisch sehr weit voneinander entfernt – so weit wie das Vogtland von New Mexico liegt. Die Künstler wählten eine ähnliche Perspektive und einen nahezu identischen Bildausschnitt. Es handelt sich in beiden Fällen um hügelige Landschaften mit dem Mond im Mittelpunkt eines nicht gänzlich schwarzen Himmels – eines Himmels im Übergang zwischen Tag und Nacht bzw. Nacht und Tag.
Wenn wir nicht nur das WECHSELSPIEL zwischen Mattheuer und Namingha betrachten, sondern Noah Davis’ Painting for My Dad hinzunehmen und allen drei Nachtgemälden im Kabinett versuchen zu »lauschen«, können wir wahrnehmen, dass die Szenen in eine fast unheimliche Stille getaucht zu sein scheinen, fern vom Lärm des modernen Lebens. Die Kontemplation der Natur steht hier im Mittelpunkt, ganz im Sinne der Romantik. Verschiedene Lichtquellen, natürlich und künstlich, stehen zur Disposition: Mond, Sterne, Autoscheinwerfer, Straßenlampen oder eine tragbare Öllampe. Nur in Davis’ Gemälde ist ein einziger Mensch als Rückenfigur dargestellt, wie in den berühmten Werken von Caspar David Friedrich. Er hält die Handlampe in der Hand, während er in die Weite eines Sternenhimmels schaut. Welche Lichtquellen tragen wir bei uns und in uns, um die Wege für uns und für andere in der Dunkelheit zu erleuchten? Welche Künstler:innen sollten dringend beleuchtet werden, um Sichtbarkeit und Repräsentation zu erlangen?
Paola Malavassi
[1] Vgl. Tina M. Campt, Listening to Images, Durham 2017. Die Ausstellungsreihe WECHSELSPIEL ist der Wissenschaftlerin Tina M. Campt gewidmet.
[2] Andere Künstler:innen beschäftigten sich ebenfalls mit dieser berühmten Liedzeile, zuletzt der Konzeptkünstler David Horvitz (geb. 1982, Kalifornien) mit dem Werk Lullaby for a landscape (Der Mond ist aufgegangen) (2017) mit 42 Glockenspielen aus gehärteter Aluminiumlegierung, gestimmt auf die Noten des Schlafliedes.
[3] Wolfgang Mattheuer, Äusserungen. Texte, Graphik, Leipzig 1990, S. 36.
[4] Dan Namingha während eines Vortrags im Museum of Indian Arts and Culture in Santa Fe, New Mexico: »Dan Namingha: MIAC Living Treasure«, YouTube Video, 25.3.2016, 54:52 min., hochgeladen von dem Museum of Indian Arts and Culture, https://www.youtube.com/watch?v=TphZpqFXbTk&t=2989s (aufgerufen am 19.8.2024).