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Erika Stürmer-Alex & Remy Jungerman
Wechselspiel No. 3
3.6. – 20.8.2023

Erika Stürmer-Alex, Selbstportrait

Erika Stürmer-Alex, Selbstportrait, 1981. Sammlung Hasso Plattner, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Remy Jungerman, Rite of Passage

Remy Jungerman, Rite of Passage [Übergangsritus], 2013. Courtesy Remy Jungerman und Goodman Gallery, Foto: Courtesy Remy Jungerman

Für das dritte Wechselspiel treffen im Kabinett des MINSK ein gemaltes Selbstbildnis der brandenburgischen Künstlerin Erika Stürmer-Alex aus der Sammlung Hasso Plattner und ein sogenanntes »Rasterwerk« des surinamisch-niederländischen Künstlers Remy Jungerman aufeinander. So sehr sich die Werke in ihrer Klarheit und Farbigkeit ähneln mögen, so unterschiedlich sind sie doch in ihrer Machart und Symbolik.

Entfernungen und Verbindungen, sowohl geografischer als auch kultureller Art, spielen eine wichtige Rolle bei diesem Wechselspiel. Wie weit sind Brandenburg und Suriname tatsächlich voneinander entfernt? Wie nah Deutschland und die Niederlande beieinander liegen, wenn wir auf die Karte schauen, doch wie nah auch die Niederlande und Suriname, wenn wir auf die Kolonialgeschichte schauen?

Zwar spricht kaum jemand über die Ähnlichkeit der Werke berühmter niederländischer Maler, Designer und Architekten der Gruppe De Stijl zu den Rastermustern der surinamischen Textilkunst, doch fast alle sehen in Remy Jungermans »Rasterwerken« sofort eine Referenz auf Mondrian und De Stijl. Und warum sehen viele A. R. Penck in Stürmer-Alex’ Œuvre? Welche Geschichten erzählen uns diese Zuordnungen? Wer wird von wem zum Vorbild deklariert?

Das WECHSELSPIEL NO. 3 möchte nicht nur einen Dialog zwischen Erika Stürmer-Alex und Remy Jungerman eröffnen, sondern auch eine unvoreingenommene Reflexion über Vorbilder und Kunstkanon auslösen. Kunstgeschichtsschreibung erzeugt per se, ob gewollt oder nicht, immer wieder Referenzen zwischen Stilrichtungen. Wir haben Stürmer-Alex gefragt, inwiefern Penck prägend für sie war, und Jungerman dieselbe Frage in Bezug auf Mondrian gestellt.

Im Selbstportrait aus dem Jahr 1981 hält sich die Künstlerin Erika Stürmer-Alex zeichenhaft fest – ohne Gesichtszüge, ohne Details. Schultern, Hals und Kopf sind grob mit schwarzer Farbe umrissen. Neben diesen schwarzen Linien dominiert die Farbe Rot die Komposition. Verschiedene abstrakte Formen umgeben die Künstlerin, teils versehen mit geometrischen Mustern und einfachen Zeichen wie Streifen, Punkten und Kreuzen. Ein schwarzes Kreuz ersetzt das eine Auge. Zwei weitere rote Kreuze markieren zwei weiße Flächen, die an Flaggen erinnern. Eine vertikale schwarze Linie teilt den Körper der Künstlerin in zwei Hälften. Die Frage, ob dies Ausdruck vom Gespalten-Sein in einem geteilten Deutschland sei, verneint sie: »Ich fühlte mich selbst gespalten, aber nicht politisch, sondern künstlerisch. Ich war immer im Konflikt zwischen dem Expressiven und dem Minimalistischen. Ich fasste den Entschluss: Jetzt bin ich konsequent, jetzt mache ich Bilder, die sollen aussehen wie Verkehrszeichen – ja, so eindeutig war mein Vorsatz. Ich habe ein paar zeichenhafte Werke gemacht und dann war der Vorsatz schon wieder weg.« Erika Stürmer-Alex arbeitet intuitiv. Was in ihrem Werk zeichenhaft daherkommt, soll Gefühlszustände zum Ausdruck bringen. Sie sagt: »Die Befindlichkeit wird im besten Falle im Werk sichtbar, sodass ich erst hinterher erklären kann, was es eigentlich wahrscheinlich war, was mich da bedrückt oder erfreut hat«.

Das Kreuz, so die Künstlerin, drücke ein Gefühl des »Ausgestrichen-Werdens« aus. »Ich fühlte mich ausgestrichen«, sagt sie, »obwohl ich es nicht war. Ich konnte ausstellen, aber ich war immer irgendwie gebremst«. 1981 befand sich die Künstlerin zudem in einer schwierigen Lage: Sie hatte versucht, ein Gehöft zu erwerben, um großformatige Plastiken entwickeln und mit Kolleg:innen zusammenarbeiten zu können. Sie hatte alles abgesprochen und bereits begonnen zu sanieren, dann kam der Bescheid, dass sie das Gehöft nicht kaufen dürfe, weil die Stasi der Meinung war, sie würde Gruppenarbeit gegen die Staatsideologie betreiben. Sie gab nicht auf, bekam das Haus schließlich über Umwege, wusste jedoch, dass sie weiter unter Beobachtung stehen würde und ihr der Hof jederzeit wieder weggenommen werden könnte. Diese Zeit war geprägt von Ungewissheit und einem Gefühl des Ausgeliefert-Seins.

Dass viele von uns A. R. Penck in ihrem Werk zu erkennen glauben und andere sogar einen Einfluss des Künstlers auf ihre Malerei unterstellen, zeugt von dem Versuch einer linearen Kunstgeschichtsschreibung. Es mag visuell gerechtfertigt sein, doch Penck war weder ein Vorbild noch ein Freund, so Stürmer-Alex. Er habe keinen direkten Einfluss auf ihre künstlerische Arbeit gehabt. Beide stammen aus der DDR und haben eine ähnliche künstlerische Form gefunden, weit entfernt vom Akademischen. Der eine verließ das Land als Dissident, die andere blieb bis heute im ehemaligen Osten. Interessanterweise pflegen beide eine Leidenschaft für Musik und eine Vorliebe für das Zeichenhafte.

Ähnlich wie Stürmer-Alex’ Selbstportrait besteht das »Rasterwerk« von Remy Jungerman aus dem Jahr 2013 mit dem Titel Rite of Passage (Übergangsritus) aus zahlreichen vertikalen und horizontalen schwarzen Linien, sondern aus Holzleisten zusammengestellt und mit Gegenständen, Collagen und ausgeschnittenen Fotografien bestückt. Jungerman verwendet in seiner Arbeit Elemente von Winti-Ritualen aus Suriname. Winti ist eine Verbindung verschiedener religiöser Praktiken, die von versklavten Menschen aus Westafrika nach Suriname gebracht wurde. Diese wurden auf den niederländischen Plantagen weiter ausgeübt, jedoch von den sogenannten Maroons weniger eingeschränkt praktiziert, denen es gelang, aus der Sklaverei in den dichten Regenwald im Landesinneren zu fliehen, wo sie ihre Religion ausleben und weiterentwickeln konnten. 

Ein Hauptmotiv im Werk Übergangsritus sind Flaschen unterschiedlicher Größen: fotografierte Flaschen, auf Papier gedruckt und ausgeschnitten, sowie reale Flaschen, die meisten versehen mit unterschiedlichen Labels von niederländischen Likörmarken. Alkohol wird in der surinamischen Tradition für die Libation genutzt. Die Libation oder das Trankopfer beinhaltet das rituelle Ausgießen einer Flüssigkeit als Opfergabe an eine Gottheit oder einen Geist oder zum Gedenken an die Toten. Auffällig sind insbesondere zwei Flaschen aus Glas, die auf Holzablagen stehen. Eine davon enthält eine goldene, nicht weiter definierte Flüssigkeit, die andere trägt ein Label der Marke »Florida Water«, ein Eau de Cologne, das aus New York stammt, im 19. Jahrhundert nach Suriname kam und in Form von Bädern vollständig in die surinamische Ritualtradition integriert wurde. In der Flasche ist keine Flüssigkeit mehr, sondern ein Stück gerolltes Papier, einer Flaschenpost ähnelnd – das auf den Transfer von Gegenständen, Flüssigkeiten, Geschmack und Gerüchen verweist, die allmählich Teil der eigenen Kultur und Rituale werden.

Auch wenn sein »Rasterwerk« kein Selbstbildnis wie das von Stürmer-Alex sei, so Jungerman, sei es ein sehr persönliches Werk voller Referenzen auf seine Herkunft. Es sei ein Privileg, die eigene Stammbaumlinie über mehrere Generationen nachvollziehen zu können und einen physischen Ort der Herkunft ausmachen zu können. In Jungermans Kunst bedeutet Herkunft immer bereits eine Mischung verschiedener Kulturen, die sich im Laufe der Zeit begegnen und in etwas Neues verwandeln. Mit Blick auf die Kolonialgeschichte der Niederlande sagt Jungerman: »Der Platz, den meine Leute in der Geschichte der Niederlande einnehmen, wird den Niederländern gerade erst bewusst. Ich glaube, die Tatsache, dass wir alle hier sind, ist auf die niederländische Versklavung von Afrikaner:innen zurückzuführen. Das wurde von den Niederlanden verursacht, nicht umgekehrt. Wir haben eine gemeinsame Geschichte, und ich bin froh, dass das immer mehr Menschen erkennen«.

Seine Werke, so der Künstler, machen selbstbewusst und mit Stolz auf die Vorfahren und auf eine gemeinsame Geschichte voller Transfer aufmerksam: »Ich empfinde eine Art Stolz auf meine Kultur, anstatt mich nur auf unsere schmerzhafte Geschichte zu fokussieren. Wenn man sich meine Arbeit ansieht, die nicht offensichtlich politisch ist, sieht man, dass sie in alle Richtungen gehen kann – sie kann einen in die Geschichte führen, sie kann einen auch zum Raster führen, nicht nur zu dem von Mondrian, sondern auch zu den Rastern in surinamischen Textilien. Oder zu den Plantagenrastern während der Sklaverei, die wie ein Gefängnis funktionierten – wenn man es schaffte, einem Raster zu entkommen, gab es noch ein weiteres und noch ein weiteres, bevor man in die Freiheit gelangen konnte. Der Weg dorthin war lang. Vielen Menschen gelang es, der Sklaverei zu entkommen, und sie bauten im Regenwald eine neue Kultur auf, und ich bin stolz auf diesen Teil meiner Abstammung.«

Es sei fast unmöglich, über Raster in der Kunst zu sprechen, ohne über Mondrian zu sprechen, so Remy Jungerman: »Wenn man in der eigenen Arbeit ein Raster verwendet, kommt immer Mondrian ins Spiel. Das Raster gehört ihm! [lacht] Ich hoffe jedoch, dass die Menschen bei der Betrachtung meiner Arbeit über Mondrians Raster hinausschauen können.«

Einen Einfluss zu unterstellen, ohne ihn zu hinterfragen und zu überprüfen, basiert oft auf einem westlich geprägten Kunstkanon und impliziert eine Hierarchie und eine Wertung. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Künstler:innen herauszuarbeiten, kann dagegen den Blick öffnen.

Erika Stürmer-Alex und Remy Jungerman teilen die Nutzung der schwarzen Linie, der Primärfarben und das auffällige Kreuz in Form eines X. Das Kreuz stellt für Remy Jungerman allerdings nicht Ausstreichen, sondern Stabilität dar: »Mich interessiert, wie Symbole in verschiedenen Kulturen gelesen werden. Ein ›X‹ kann für Erika Stürmer-Alex ein Gefühl des ›Ausgestrichen-Werdens‹ bedeuten und für mich Stabilität (das X in Gitterkonstruktionen sorgt für Stabilität).« In Übergangsritus ist ein Kreuz in blauer Farbe angebracht. Blaues Pigment wird in der surinamischen Tradition eingesetzt, um negative Energien fernzuhalten. Neugeborenen wird blaues Pigment hinter den Ohren aufgetragen, um sie vor schlechten Einflüssen zu schützen. Deswegen entschieden wir gemeinsam mit Remy Jungerman, das Kabinett des MINSK in ebendieser Farbe zu streichen – um das Wechselspiel vor »dem bösen Blick« zu schützen.

Paola Malavassi

 

Alle Zitate im Text stammen aus persönlichen Gesprächen mit Remy Jungerman am 3. März 2023 und mit Erika Stürmer-Alex am 5. April 2023.

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