Ruth Wolf-Rehfeldt & Isa Genzken
11.2.–7.5.2023
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WECHSELSPIEL No. 2
Ruth Wolf-Rehfeldt, In sich gefangen, 1973. Sammlung Hasso Plattner; Foto: Trevor Lloyd
Isa Genzken, Weltempfänger, o. J. (ca. 1990), Installationsansicht der Ausstellung WECHSELSPIEL NO. 2, DAS MINSK Kunsthaus in Potsdam 2023. Privatsammlung, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023; Foto: Ladislav Zajac
Ich stehe in Schuhen
Sie sind von Blei
Ich trage ein Hemd
Aus Ketten
Mir wachsen Flügel
Von Beton
Ich singe einen traurigen Song
Der soll mich retten
Ruth Wolf-Rehfeldt
Eine Jamsession zwischen Ruth Wolf-Rehfeldt und Isa Genzken im Kabinett des MINSK: Das zweite WECHSELSPIEL bringt die Werke zweier kompromissloser Künstlerinnen zusammen. Auch wenn es im Kabinett eher leise zugeht, scheint es mir fast, als würde zwischen dem Gemälde In sich gefangen aus dem Jahr 1973 von Ruth Wolf-Rehfeldt und der Betonskulptur Weltempfänger, ca. 1990, von Isa Genzken Free Jazz erklingen – eine Musikrichtung, die Freiheit und Widerstand verkörpert und die Herausforderung statt Gefälligkeit sucht.
Der hier ausgestellte Weltempfänger von Isa Genzken entstand um 1990. Das Jahr, in dem Wolf-Rehfeldt ihre künstlerische Produktion für immer einstellte. Wie soll ein solch verschlossener Weltempfänger überhaupt etwas empfangen oder gar senden? Dass dieses Radio aus Beton ohne Knöpfe oder Lautsprecher seine Funktion erfüllen könnte, scheint unwahrscheinlich – vielleicht ebenso unwahrscheinlich, wie der Aufbau eines internationalen Mail-Art-Netzwerks durch Ruth Wolf-Rehfeldt in einer Diktatur wie der DDR erscheinen mag.
Manche sehen in Genzkens Weltempfänger einen Kommentar auf die »Tristesse« der Nachkriegsarchitektur in Deutschland. Die passende Frage von Ruth Wolf-Rehfeldt dazu dürfte lauten: »Bauen wir wirklich richtig?« (Abb. 1) Genzken wiederum könnte hinzufügen: »Jeder braucht mindestens ein Fenster« (Abb. 2), wie sie auch ihre erste institutionelle Ausstellung in Brüssel im Jahr 1993 betitelte. Ein Fenster symbolisiert immer Ein- und Ausblick, ein Scharnier zwischen dem Ich und der Welt da draußen. In der Collage Fensterblick, collagiert von 1980 (Abb. 3) ergänzte Ruth Wolf-Rehfeldt die abstrakte Form aus ihrem Gemälde In sich gefangen mit zahlreichen Fenstern.
Andere sehen in den Weltempfängern von Isa Genzken einen Ausdruck misslungener oder missglückter Kommunikation. Doch ist es nicht eher eine trotz allem funktionierende Kommunikation? Die Antenne ist doch da. Sie ist das entscheidende Element, denn einzig und allein durch sie können Musik und Nachrichten aus aller Welt empfangen werden. Die Antenne ist das Fenster.
Nachdem Genzken 1982 erstmalig einen Weltempfänger der Marke Panasonic als Ready Made (Abb. 4) ausgestellt hatte – ein Gerät, mit dem sie im Atelier vor allem Musik aus aller Welt empfing, gerne auch in Sprachen, die sie nicht verstand –, produzierte sie ab 1983/84 dann die minimalistischen Betonskulpturen, die trotz ihrer starken Abstraktion auf Anhieb als Radios erkennbar sind. So entstand die sogenannte Weltempfänger-Serie (Abb. 5), bestehend aus einzelnen Werken oder Werkgruppen von Radios. Zur Herstellung füllte die Künstlerin Beton in unterschiedlich große rechteckige Holzgehäuse und versenkte Antennen aus Metall im noch feuchten Material. Es gibt zahlreiche Weltempfänger unterschiedlicher Größen, Formen und Oberflächenstruktur im Œuvre von Isa Genzken, allesamt mit einer Antenne versehen.
Zur selben Zeit sendete und empfing Ruth Wolf-Rehfeldt Post aus aller Welt, egal in welcher Sprache. Von der DDR aus unterhielt sie einen internationalen Briefaustausch mit Künstler:innen aus den USA, Lateinamerika, Polen und den Niederlanden, ungeachtet aller Barrieren. Die englische Sprache hatte sie sich dafür selbst beigebracht. Schreibmaschine, Radio und Post waren große Errungenschaften in der weltweiten Kommunikation, die, inzwischen oftmals ins Digitale übersetzt, noch heute bestehen. Den DDR-Bürger:innen jedoch blieb das uneingeschränkte Empfangen von Nachrichten und Musik aus aller Welt durch Zensur, Kontrolle und Manipulation weitestgehend vorenthalten.
Der Umgang mit Information ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen für den Erhalt von Demokratie und Frieden. Information und Medien können ein demokratisches System sowohl aufrechterhalten und stärken als auch schwächen oder gar bedrohen. Freedom Won – Freedom Lost (Abb. 6) lautet der Titel eines Typewritings von Ruth Wolf-Rehfeldt aus dem Jahr 1975: Steckt nicht in jedem Stück gewonnener Freiheit auch ihr Verlust an einer anderen Stelle?
In dem Gemälde des WECHSELSPIELS No. 2 verleiht Wolf-Rehfeldt einem Gefühl des In sich gefangen-Seins Ausdruck, das sich auch in ihren vielen »Käfigwesen«, wie etwa der Fliesenarbeit Cagy Being 3 (1989/2022) (Abb. 7) im MINSK, zeigt. Es handelt sich dabei um eine Erfahrung, die zwar auch, aber nicht nur auf das politische System in der ehemaligen DDR zurückzuführen ist. Bei einem Treffen bei ihr zu Hause erzählte die Künstlerin, wie der Informationsfluss in der DDR radikal abnahm und sie gleichzeitig der Überschuss an Informationen im Westen geradezu überforderte. Beide Zustände stellten für sie eine Gefahr dar, sagte Ruth Wolf-Rehfeldt. In der Gegenüberstellung der Zeichnungen Gefühl in Grenzen, Grenzübertretung von Gefühlen (o. J.) (Abb. 8) sowie Gefühl meiner selbst (o. J.) (Abb. 9) gibt Wolf-Rehfeldt ihrem Streben nach Freiheit Ausdruck. Die erste Zeichnung besteht aus zwei Teilen. Das »Gefühl« wird hier als rundliche abstrakte Form dargestellt, ähnlich wie im Gemälde In sich gefangen. Im oberen Teil verbleibt die Form ganz brav in den rechteckigen Grenzen eines gezeichneten Rahmens. Darunter setzt sie sich aufmüpfig über den sie umgebenden Rahmen hinweg. In Gefühl meiner selbst überschreitet die Form dann das getippte Wort »restriction« (Einschränkung), welches den Rahmen bildet. Gefühl meiner selbst könnte als Selbstporträt der Künstlerin und zugleich als Porträt ihrer Kunst gedeutet werden. Das Ziel ihrer Kunst scheint die Befreiung von Einschränkungen und Zwängen zu sein. Vom Zwang, sich der Funktion von Zeichen zu unterwerfen, vom Zwang, den Rahmen des Papiers zu respektieren, vom Zwang, im Rahmen zu denken.
Die runden Formen des Gemäldes In sich gefangen scheinen beweglich und flexibel, während der Beton von Genzkens Skulptur eine Endgültigkeit besitzt, die nur durch die Funktion der Antenne relativiert wird. Ist der Weltempfänger letztlich mehr »in sich gefangen« als die Formen in Wolf-Rehfeldts Gemälde? Der Sound von Ruth Wolf-Rehfeldts Tippen an der analogen Schreibmaschine, Zeichen für Zeichen, Zeile für Zeile, der Sound von Genzkens Weltempfänger, mal rauschend, mal klar. Beide Künstlerinnen senden und empfangen.
Ich lausche dem imaginierten Free Jazz im Kabinett. »Frei« wie Ruth Wolf-Rehfeldts Mail Art, die an den Postkontrollen vorbei in die Welt hinausging, »frei« wie Genzkens Weltempfänger, die als Resonanzkörper Sound aus aller Welt zu empfangen scheinen. Auch wenn frei hier nicht gleich frei meint: Wer glaubt, dass Free Jazz in einem freien, utopischen Raum entstand, irrt. Es ging vielmehr um das Zurückerobern und Reklamieren einer nicht vorhandenen Freiheit in einer Gesellschaft, die unterdrückt und diskriminiert. Kunst bietet solche emanzipatorischen Freiräume. Sie zu finden und aufrechtzuerhalten, ist schwer. Ruth Wolf-Rehfeldt und Isa Genzken sind Künstlerinnen, die sich den Zwängen der Kunstwelt konsequent widersetzen und künstlerisch Widerworte geben. Das ist der Sound, aus dem dieses WECHSELSPIEL gemacht ist. Nicht laut, aber sicher voller Kraft.
Paola Malavassi